Dr. Achim Heinze


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Tortour de Suisse 21.-23.8.2009

Wettkampfberichte > 2009

Tortour de Suisse 21.-23.8.2009
1070 Kilometer / 15000 Höhenmeter

Bei der TORTOUR handelt es sich um ein 2009 erstmals ausgetragenes Extremradsportrennen, an welches sehr hohe Erwartungen geknüpft waren: Von Athleten, den Medien und nicht zuletzt den Veranstaltern selbst. Um es vorweg zu nehmen. Die Organisation hat ihre Hausaufgaben zu 100% erledigt - ein gutes Roadbook, nahezu perfekte Abläufe, umsichtiges und kompetentes Personal. Als "Kinderkrankheiten" könnte man die Streckenführung am Genfer See mit mehr als 20 Ampeln auf 15 Kilometern und den vorgeschriebenen strikten Umgang mit Baustellenampeln "kurieren". Wir haben uns an die Vorschriften gehalten, ich bin mir aber nicht sicher, ob ich dies noch einmal so machen würde. Wozu attackiere ich am Flüelapass, um an die Spitze heranzukommen, wenn ich 6 Minuten auf halber Passhöhe warten muss? Warum ist es nicht geduldet, auf dem Gehsteig vorsichtig zu fahren? Das macht jede Hausfrau mit Einkaufskorb nicht anders - jeder Hausmann natürlich auch.

"Wir" sind als Team Rainer Egli, der punktgenau die Navigation gestaltet hat. Sein Bruder Daniel teilte sich den Platz am Steuer bzw. in der 2. Sitzreihe des Pace-cars mit dessen Freundin Ruth. Alle drei haben selbst schon zahlreiche 24-Stunden-Rennen und weitere Extremradevents äußerst erfolgreich absolviert und kamen so mit nur einer Stunde Schlaf aus. Somit waren gute Voraussetzungen gegeben, es fehlte nur noch das passende Wetter. Doch wie so oft waren die Prognosen schlecht. Tatsächlich war jedoch nur eine einzige Stunde im Gewitter alles, was man uns an Negativem versprochen hatte. In den Medien gibt es meist nur noch Top oder Flop. Nach einer Woche mit Sommerhitze wird somit jede Gewitterwolke zum infernalen Temperatursturz hochstilisiert. Schade, es hat viel von der Vorfreude genommen. Dennoch haben wir uns nicht der daraus abzuleitenden Fernsehpfilcht gebeugt und sind alle als Extremsportler erfolgreich ins Rennen gestartet. Und damit kommen nach dieser etwas negativ klingenden Einleitung wir nun zum Erfreulichen, dem Rennen selbst:

Als persönlichen Prolog darf ich bereits mit Daniel Whyss, dem amtierenden RAAM-Gewinner der hier sein letztes Rennen bestreitet, von unserem Hotel aus zum Start fahren. Das ist doch schon mal etwas! Neutralisiert starten 25 Solisten am Freitag, dem 21.8.2009 morgens um 5.55. direkt am Rheinfall in Schaffhausen begleitet von ebenso vielen Motorrädern. Nach vier Kilometern wird das Rennen freigegeben. Auf dem flachen Abschnitt bis Steckborn kann sich niemand absetzen, so dass das Windschattenverbot von allen unterwandert werden muss. Die erste Selektion erfolgt schließlich am Checkpoint 1, wo der Kampf um den Kugelschreiber zum Leisten der Beweissignatur die Reihenfolge festlegt. Als ich mich wieder entferne, sind einige der Favoriten bereits voraus, was mich aber nicht stört. Auf den ersten ziemlich flachen 150 Kilometern will ich nur nicht zu weit abgehängt werden.

Relativ schnell erreichen wir entlang des Bodensees bzw. des Rheins "hinter" Buchs die Berge. Nach dem Checkpoint in Fideris stecken die Teilnehmer auf den Rängen 6 - 12 im Ampelstau fest. Kaum schaltet diese auf Grün, ziehe ich allein davon. Mal schauen, wen ich von hinten erschrecken kann. Kandidat auf Rang 5 ist zunächst Urs Samtleben, den ich am Wolfgangpass (1680 m) vor Davos passieren kann. Für genannte Namen übernehme ich aber keine Garantie - das Who is who ist mir nicht bekannt. Abgesehen von dem 2-fachen RAAM-Sieger Daniel Whyss ist mit Marco Baloh (RAAM 09: Rang 3, 24-h-Weltrekordhalter), Thomas Ratschob (seit 5 Jahren im Extremradsport bei jedem Rennen auf dem Stockerl) sowie Adrian Brennwald (Welt- und Europameister im Ultratriathlon) die erste Garnitur unterwegs. Ansonsten kenne ich noch Rico Hughes, der beim Raid Provence letztes Jahr als einziger mein Bergsprinttempo auf dem Mount Ventoux einige Zeit mithalten konnte und nicht nur dort gute Zeiten und Platzierungen vorweisen kann) und seit zwei Wochen den Schweizer Simon Ruff, der vor 14 Tagen beim Alpenbrevet den ersten Berg mit mir in mörderischem Tempo hoch ist. Nicht vergessen sollte man noch die beiden RAAM-Finischer Beny Furrer und Martin Jakob. Weitere Namen hab ich schon Mal vorne in Ergebnislisten gelesen, aber wie gesagt - ich hab mich diesbezüglich nicht vorbereitet.

Zurück zum Renngeschehen: Direkt in Davos biegt man links zum Flüelapass (2385 m) ab. Dort steht glatt ein Race-Patrol und provoziert von links auf der Vorfahrtstraße kommend einen Stopp meinerseits, der gelingt. Weiter gelingt auch mir ein ordentliches Tempo bergauf, so dass ich auch den Viertplatzierten Adrian Brennwald überholen kann. Auf der Passhöhe fehlen nur noch 10 Minuten zur Spitze - der erste Teilerfolg. Die Abfahrt ins Engadin verläuft einsam und unspektakulär. Dort empfängt uns alle ein übler Gegenwind und die dunkle Wolkenfront am Ende des langen Tals. In Zernez darf ich als Vierter unterschreiben. Der Wind und die holprigen Ortsdurchfahrten kosten mich viel Kraft und Motivation. Am Julierpass selbst kann ich wieder zulegen und einen der beiden Überholer wieder einfangen. Bergab fährt das offizielle Kamerateam unseren waghalsigen Abfahrtsstil mit. Als der mit mir Abfahrende (vermutlich Thomas Spichtig) mit Zeitfahrrad und -helm einen uns nicht freundlich gesonnenen Lastwagen mit langem, leerem Anhänger im Toten Winkel überholt, wird mir die Sache doch eine Nummer zu heiß. Zudem wäre der nette und zuvorkommende LKW-Lenker wohl Amok gefahren, hätte er mit seiner Stiermentalität unser rotes Auto vor sich gehabt - und dann noch ein deutsches Kennzeichen. Lieber nicht, schließlich war der Deal mit meinen Schweizer Betreuern, dass ich um jeden Preis finishe!

Das Wetter ist im Tal noch kurze Zeit sonnig, doch wir fahren direkt in die pechschwarze Wolkenbank. Schnell hat uns das Gewitter erwischt bzw. wir selbiges, weil wir direkt darauf zugefahren sind. Wäre es nur eine Spaßtour, hätte man sehr gut ausweichen können, aber unser Auftrag ist doch ein anderer. Da es aber warm bleibt, ziehe ich nichts über, nur Dani (Egli, nicht Whyss!) montiert an meinem Fahrrad hinten ein Schutzblech. Vom berühmteren Radsportler mit dem Vornamen Daniel erfahren wir am Checkpoint in Disentis, dass er aufgeben musste. Der Daniel, der nicht aufgeben darf, (also der aus meinem Team) montiert hier statt des Schutzblechs Rück- und Vorderlicht an meinem Rennrad. Nun in der Abendstimmung genieße ich die kommenden 35 Kilometer, welche ich schon einmal mit dem Rad kennengelernt hatte. Auf dem Weg nach oben stellt sich neben einem menschlichen Bedürfnis wieder einmal eine rote Ampel in den Weg. Dabei schließt Rico Hughes zu mir auf.

Wir unterhalten uns so lange bis sich meine Französichekenntnisse wiederholen (also sehr kurz) und erreichen etwa gemeinsam den Kulminationspunkt des Oberalppasses (2050 m). Die eigentlich sehr rasante Abfahrt nach Andermatt wird uns durch Nebelschwaden und den letzten Sprühregen leider vermiest. Schade, es war die einzige Bergabstrecke, die ich sehr gut kenne. Als Ausgleich gibt´s dafür an nächsten Checkpoint etwas zu essen! Ein paar Bisse in einen Apfel und schon wieder geht es bergauf. Den Gotthardpass (2100 m) hatte ich mir schwieriger vorgestellt. Doch man darf sich nicht zu früh freuen: Was die Auffahrt nicht hergibt, schafft die Abfahrt mit sechs Kilometern Kopfsteinpflaster. So kommt man wenigstens zu einer unverhofften Massage.

Unsere Pausentaktik hat sich doch mittlerweile so eingespielt, dass wir bei den Stopps kaum Zeit verlieren. Das heißt aber auch, man sitzt permanent im Sattel. Im Prinzip erledige ich alles onroad: Trinken, Essen, Urinieren und das Hochschieben der Arm- bzw. Knielinge. Recht viel mehr gibt es nicht zu tun - außer treten, treten und nochmals treten. So auch am Nufenenpass (2480 m), dem Dach der TORTOUR. Über die Abfahrt ins ewig lange Wallis gibt es nicht viel zu schreiben: Es ist dunkel und wird und wird nicht heller. Erst auf dem Weg zum Genfer See kommt Sonnenlicht ins Dunkel. Zuvor reicht mir Ruth, die in der Küche (sprich dem Autositz beim Wasserkocher) waltet, einen Bidon mit Boullion (für Nichteingeweihte: Eine Radflasche mit Suppenbrühe - wir sind eben mittlerweile schon in der französischsprachigen Schweiz angekommen!).

Nach der im Vorwort bereits angesprochenen Ampelstaffette in Lausanne, kann man sich nach dem Checkpoint in Morges wieder am Berg austoben. Mit dem Col de Marcharaux (1450 m - siehe Bilder unterhalb) sind weitere 1000 Höhenmeter zu absolvieren. Bergauf werden zahlreiche Radfahrer überholt, darunter allerdings keine Tortourler, sondern viele Hobbyradler. Im Prinzip sind wir ja auch nichts anderes - reich wird niemand dabei, selbst wenn er diesen Sport wie der spätere Sieger Marco Baloh aus Slowenien semi-professionell betreibt. Reichlich durchgeschüttelt wird man auf dem Downhill Richtung L`Abbaye. Von wegen die schlanke Carbonsattelstütze federt vieles ab.

Nun weichen die Berge mehr und mehr einem mittelgebirgsähnlichen Relief. Bei schönem Wetter und schönen Ausblicken auf die vielen blauen langgsetreckteen Seen, kommt dennoch keine euphorische Stimmung auf. Der wirklich ungemein starke und beständige Nordostwind macht wohl allen von uns das Leben auf dem Rad schwerer als erwartet. So ist man froh, wenn es wieder einige 100 Höhenmeter bergauf geht - selbst wenn dies mit durchschnittlich (!) 12% wie nach dem Lac de Joux der Fall ist. Nur aus dem Begleitwagen kommen keine Hiobsbotschaften. Fast jeder Wunsch wird erfüllt. Als mir mehr pro Forma von meinen drei Schweizer Begleitern deren Teamproviant zum Eigenverzehr angeboten wird, greife ich diesen gleich ab. So wandern ab nun sämtliche Marsriegel nach einmal Abbeißen in meine Speed-Box, um von dort bei der nächsten holprigen Abfahrt den Ameisen auf der Straße gespendet zu werden. So auch beim Col du Pierre Pertuis im Jura, den ich vom Schweizer Radmarathon gut kenne.

Mittlerweile ist es zum zweiten mal Nacht geworden seit wir alle on (Tor-)Tour sind. Das Ende ist abzusehen. Fleißig wird gerechnet, wann wir im Ziel sein könnten. Doch wir alle haben das Auf und Ab auf den letzten 100 Kilometer etwas unterschätzt. Den Anstieg nach Liestal nehme ich in aggressiver Manier, doch er will und will nicht enden. Um nicht das große Feuerwerk, das ich entzündet habe, erlöschen zu lassen, bleibt nichts anderes übrig, als so weiterzusprinten. Meine Betreuer freuts und mir schadet es nicht. Etwa zeitgleich dürfte im Zielort Schaffhausen das echte Feuerwerk ohne uns Singlestarter abgebrannt werden. Auch ohne Feurio und Fanfaren erreiche ich schließlich um 2.26 Uhr morgens das Ziel.

Dort reicht mir Ruth noch das letzte Ensure - übrigens Nummer 33! Wenn das keine Leistung ist...
... Reiner ist so nett, mein Fahrrad ins entfernt gelegene Hotel zu pedalieren, während Dani die letzten von 1100 Autokilometern sicher nach Hause fährt.

Alles in allem schon ein angenehmes Gefühl, die Schweiz tretend umkurvt zu haben. Wie viele Pedalumdrehungen es wohl waren?
Mein Dank gilt dabei vor allem den drei Betreuungspersonen, die mich teilweise nicht nur als Sportler rundum betreut, sondern mir auch als Tourist entsprechend dem Motto der Kunde ist König eine schöne Zeit in der Schweiz bereitet haben.
Das klingt schon fast wie Urlaub...

Fotos: Ruth Reichlin, Daniel Egli, Dr. Rainer Egli.


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